Reisen dem grünen Daumen nach

Ein Artikel von REISEN-Magazin/Gerda Walton | 19.04.2021 - 12:30
Natalia Greeske_shutterstock_1300799029.jpg

Sissinghurst © Natalia Greeske/shutterstock

Zahllose Gärten, die vor langer Zeit ausschließlich als Statussymbole ihrer betuchten Besitzer erbaut wurden, damit diese hinter schützenden Mauern mit ihren illustren Gästen durch irdische Paradiese lustwandeln konnten, stehen heute für jedermann offen und wurden durch diesen Trend oftmals vor dem drohenden Verfall gerettet. Und wer keine edlen Gärten herzuzeigen hat, der lockt  Besucher aus nah und fern durch Gartenschauen an, die allerorts aus dem Boden schießen und dem Tourismus kräftige Impulse verleihen.

Unterschiedliche Klimazeiten

Viele Gärten mit großen Namen, wie das als „Flaggschiff“ der Königlichen Gartenbaugesellschaft bezeichnete Wisley, stehen Gartenfreunden ganzjährig offen und stecken voller Geschichte. Manche sind berühmt für eine einzige Pflanzenart und öffnen nur an wenigen Tagen, um den Besuchern endlose Parklandschaften voll duftiger weißer Narzissen oder ein Meer himmlisch blauer Bluebells zu zeigen. Im Mai können Wälder von jahrhundertealten blühenden Rhododendren, Azaleen und Kamelien durchwandert werden und im Juni öffnen die berühmten Rosengärten voll duftender alter und neuer Rosen ihre einladenden Pforten. Nicht wenige Gärten sind für ihre fantastische herbstliche Laubfärbung berühmt. 
Von der Vegetation her besteht übrigens zwischen Cornwall und dem englischen Norden ein Unterschied von fast einem Monat. Um keine Enttäuschung zu erleben, ist es überaus wichtig, dies bei der Reiseplanung zu berücksichtigen und allfällige Spezialisierungen vieler Gärten zu beachten. Cornwalls Rhododendronwälder zeigen von Ende April bis Mitte Mai einen fantastischen Blütenreichtum, an den aber bereits Mitte Mai nur mehr Teppiche von abgefallenen roten Blüten erinnern, während diese Pflanzengattung im Norden von England oder in Schottland dann erst zu blühen beginnt. Bei Rosengärten verhält es sich ganz ähnlich.  

Wollerton Old Hall – Alice im Wunderland

Sergey V Kalyakin_shutterstock_1752710813.jpg

Wollerton Old Hall © Sergey V Kalyakin/shutterstock

Wie Alice im Wunderland verhält sich Wollerton Old Hall. Den Garten entdeckt man nahe der mittelalterlich geprägten Stadt Shrewsbury. Den versteckten Eingang ins Paradies muss man sich zeigen lassen, aber dann ist man ganz sich selbst überlassen und fühlt sich wie Alice im Wunderland. Und einer der 17 verschiedenen Gartenbereiche, die es zu entdecken gilt, heißt tatsächlich Alice’s Garden. Völlig überwältigt entdeckt man immer wieder Neues, und jeder der Gartenräume hat seinen ganz persönlichen Charakter. Charmante kleine Blütengärten wechseln mit ideenreichen formalen Gestaltungen, manchmal werden sie gemixt in einem aufregenden Miteinander von strengen, geraden Linien und ideenreichen Blatt- und Blütenformen, Farben und Accessoires. Von einem Gärtchen zum nächsten öffnen sich dekorative Mauerbögen, halb-offene Gartentüren schaffen Spannung und machen neugierig auf das, was dahinter noch verborgen liegt. Wollerton ist ein inspiratives Kunstwerk, das man sich buchstäblich auf der Zunge zergehen lässt. Hat sich die Gartentüre dann schweren Herzens hinter einem geschlossen, kehrt man im putzigen Puppenstübchen-Tearoom wieder in die Realität zurück. 

Hidcote Manor Garden

Mo Wu_shutterstock_1906901020.jpg

Hidcote Manor Garden © Mo Wu/shutterstock

Die begnadete Gärtnerhand seines Schöpfers Lawrence Johnston, der durch Hecken und Mauern, Blickachsen und Durchblicke die berühmten Konturen des Gartens geschaffen hat, ist trotz der Übernahme durch den Trust im Jahr 1948 noch immer deutlich spürbar. Die Schönheit und Fülle der verschiedenen Gartenräume ist im Juni schier überwältigend, obwohl sich einer der berühmtesten Bereiche des Gartens, das rote Border, das für den Frühling mit roten Tulpen bepflanzt wird, erst Ende Juli im Bestzustand zeigt. Hidcote ist ein „mindestens drei Stunden-Garten“. Für die Möglichkeit, sich zwischendurch mitten im Garten stärken zu können, ist man dankbar. In nächster Nähe liegen die durch ihre legendäre weiße Ramblerrose berühmten Kiftsgate Court Gardens. Die aktuellen Besuchstage entnimmt man am besten dem Internet. 

Levens Hall

Debu55y_shutterstock_1791889307.jpg

Levens Hall © Debu55y/shutterstock

Er ist der einzige aus der Tudor-Zeit original erhaltene Garten in England und in Privatbesitz. Das Anwesen liegt in der Grafschaft Cumbria, besser bekannt als Lake District. Am schönsten ist er Mitte Juli, wenn ein Teppich aus gelben Löwenmaulkerzen den riesigen, aus dunkelgrüner und goldgelber Eibe geschnittenen Figuren zu Füßen liegt. Je nach Lichteinfall verändern sich die Fantasiegebilde, machen den Garten manchmal sogar ein bisschen „spooky“ und unwillkürlich hält man nach dem Hausgeist, einer Dame in grauen Schleiern, begleitet von einem kleinen schwarzen Hund, Ausschau. Wer glaubt, schon alles gesehen zu haben, der wird im Garten von Levens Hall eine neue Dimension des Gärtnerns entdecken.

Broughton Grange Gardens

Wer auf seiner England-Reise Stratford upon Avon besucht, sollte unbedingt den kleinen Umweg über Banbury auf sich nehmen, um einen der interessantesten zeitgenössischen Privatgärten Englands kennenzulernen. Er wurde im Jahr 2001 von Tom Stuart Smith, einem englischen Spitzengärtner, auf etwa   25.000 m2 angelegt. Über einen leichten Südhang, der den Blick in die Landschaft freigibt, wurden auf drei Terrassen verschiedene Themengärten angelegt, die aber nur einen Teil des erstaunlichen Gartens darstellen. Das genussvolle Durchwandern des endlos anmutenden Geländes gleicht einer botanischen Entdeckungsreise. Man kann gar nicht glauben, dass die privaten Besitzer ihre äußerst aufwändige Gartenkostbarkeit einen Tag pro Woche dem NGS für wohltätige Zwecke zur Verfügung stellen. Eine Tasse englischen Tee und einen kleinen Imbiss im Grünen hat man sich nach dem Besuch redlich verdient. Ganz in der Nähe liegt übrigens das imposante Broughton Castle, das mit seinen Gärten ebenfalls einen Besuch wert ist.

David Austin‘s Rosengarten

Olga_Ionina_shutterstock_1288012243.jpg

Rosengarten © Olga_Ionina/shutterstock

Ab Mitte Juni ist dieses „Reich“ einfach überwältigend. Über viele Jahre hinweg wurden dem „Anfangsgarten“ von David Austin immer neue Bereiche hinzugefügt. Heute präsentiert man dort bei noch immer freiem Eintritt rund 700 Rosenarten aus aller Welt – somit keineswegs nur Austin-Züchtungen. Nach einem Besuch ist man ziemlich erschöpft, aber für einen Rosenfreund bedeutet dieser Garten schlichtweg das Paradies auf Erden. Die Zufahrt vom Dörfchen Albrighton aus, westlich von Wolverhampton gelegen, ist von typisch englischer Bescheidenheit, aber die Suche lohnt sich. 

Lost Gardens of Heligan

khd_shutterstock_35736040.jpg

Der Riese in den Lost Gardens of Heligan ­bekommt im Sommer knallrote Montbretien- Haare © khd/shutterstock

Obwohl erst 1990 aus einem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf geweckt, zählt das in der Nähe von St. Austell gelegene Heligan zu den ganz großen Attraktionen Cornwalls. Im Frühling wird der sich durch ein kleines Tal schlängelnde Bachlauf, der mehrfach zu kleinen Teichen aufgestaut wurde, mit seinen gigantischen, im magischen „cornisch red“ blühenden Baumrhododendren zum Hotspot des Gartens und auf der Rasenfläche von „Flora’s green“, die während des Zweiten Weltkriegs den hier stationierten amerikanischen Soldaten als Panzerübungsplatz diente, blüht noch immer der größte Rhododendron der Welt. Man bemüht sich, den Garten ganzjährig zu attraktivieren, aber die Rhododendronblüte Anfang Mai ist schwer zu toppen. 

Der berühmteste: Sissinghurst

Bildagentur Zoonar GmbH_shutterstock_1563966493.jpg

Sissinghurst © Bildagentur Zoonar GmbH/shutterstock

Wenn im Grün der Grafschaft von Kent die Zwillingstürme von Sissinghurst auftauchen, beginnt so manchem Gartenfreund das Herz stärker zu klopfen. Ob es der schönste Garten der Welt ist, muss jeder Besucher selbst entscheiden, die Konkurrenz ist in England bekanntlich groß. Der berühmteste Garten dürfte der seit dem Tod seiner Schöpferin, Vita Sackville-West, im Jahr 1967 dem National Trust übergebene Garten allerdings sein. Er ist von Mitte März bis Ende Oktober geöffnet, am perfektesten ist der Garten Mitte Juni zur Rosenblütezeit. 

Wisley Gardens

Magdanatka_shutterstock_648349942.jpg

Wisley Gardens © Magdanatka/shutterstock

Zum Imperium der weltberühmten Königlichen Britischen Gartenbaugesellschaft gehören bald schon fünf Gartenanlagen: Harlow Carr in Nordengland, Hyde Hall nordöstlich von London und Rosemoor in Devon, Bridgewater bei Manchester wird 2019 eröffnet. Aber Wisley, südlich von London gelegen, überstrahlt sie alle und bietet seinen Gärtnern aufgrund seiner günstigen klimatischen Lage einzigartige Möglichkeiten. Sogar für englische Verhältnisse ist die Anlage riesig und kein Garten für einen schnellen Besuch. Man sollte am besten einen ganzen Tag dafür einplanen, da einem zwischen den unzähligen Gartenbereichen erfahrungsgemäß öfter einmal die Kondition ausgeht. Zur nötigen Stärkung gibt es im Garten ein großes Restaurant. Man müsste in der Nähe wohnen und jede Woche einmal hinfahren können, um nach und nach all das zu entdecken, was sich ambitionierte „Gartenmacher“ hier Jahr für Jahr einfallen lassen, um dem Attribut „forever young“ gerecht zu werden. 

Besuch bei Prince Charles

Eine Auswahl unter den gut und gerne 3.000 (3.000! kein Tippfehler!) zu besichtigenden Gärten zu treffen, die sich über ganz England verstreuen, ist wirklich nicht leicht, schließlich ist der Geschmack jedes Gartenbesuchers ein anderer. Leider kommt es jedoch auch vor, dass Gärten ihre Pforten schließen müssen – wie Leonardslee, einst der schönste Frühlingsgarten weit und breit. Eine schier unglaubliche Zahl an einfach prachtvollen Gärten auf verhältnismäßig kleinem Raum, darunter auch Highgrove, der berühmte Garten seiner Königlichen Hoheit, Prince Charles, findet man übrigens in den Cotswolds westlich von London. Mit etwas Glück und rechtzeitiger Voranmeldung, am besten bereits im Februar, findet man womöglich sogar Einlass in sein privates Refugium. Und wenn nicht, tröstet man sich mit einem anderen schönen Garten. Und wer in der Nähe des Flughafens Heathrow noch ein bisschen Zeit hat, um von den englischen Gärten standesgemäßen Abschied zu nehmen, dem sei ein Abstecher zu den an der M 3 nahe Guildford gelegenen kleinen West Green Gardens ans Herz gelegt.

Das gelbe Buch der Gartenparadiese

Die für Publikum geöffneten Gärten Englands, die entweder durch den National Trust, die Königliche Gartenbaugesellschaft, Stiftungen, oder nach wie vor durch private Eigentümer betreut werden, stellen ein buntes Kaleidoskop der unterschiedlichsten Gartenstilrichtungen dar. Nicht wenige davon sprengen, was Dimension und unglaublichen botanischen Reichtum anbelangt, das Vorstellungsvermögen von uns „Continentals“, wie uns die Engländer als Sammelbegriff gerne bezeichnen, ganz gewaltig. Welchen Stellenwert „gardening“ in England aber tatsächlich hat, erkennt man am eindrücklichsten am alljährlich erscheinenden Yellow Book, herausgegeben vom NGS, dem National Gardens Scheme, in dem auf fast 800 Seiten Gärten jeder Art und Größe in Schlagworten aufgeführt sind, die entweder ganzjährig, manche Privatgärten auch nur an einigen besonders attraktiven Tagen des Jahres, besichtigt werden können. Und das sind beileibe nicht alle, sondern nur jene Gärten, die den Ertrag spezieller Öffnungstage dieser Organisation für wohltätige Zwecke zur Verfügung stellen. Wer eine Gartenreise nach England plant, sollte sich diesen unverzichtbaren Behelf unbedingt  besorgen, auch wenn einem beim ersten Durchblättern angesichts der schier unglaublichen Fülle der darin angeführten und durchwegs sehenswerten Gärten der Kopf schwirrt. Das Buch ist aber nicht nur ein berühmter Gartenführer, sondern zugleich ein wahres „Sesam öffne Dich“, das einem Zutritt in Gartenparadiese, aber auch Kontakt zu jenen liebenswerten Menschen vermittelt, die diese Gärten mit Hingabe und großem Aufwand pflegen und mit sichtlichem Stolz ihren zahlreichen Besuchern präsentieren. Im Yellow Book sind übrigens alle Gärten nach Grafschaften geordnet, was die Planung erleichtert. Allein in Cornwall sind z. B. an die hundert Gärten aufgelistet, zehn davon werden als „Great Gardens“ bezeichnet, die z. T. vom Atem einer längst vergangenen Zeit durchströmt werden, wie die inzwischen berühmt gewordenen Lost Gardens of Heligan. Man entdeckt aber auch futuristische Anlagen, wie das aus Anlass des Milleniums geschaffene Eden Project.