Richard Löwenherz: Was wirklich geschah

Ein Artikel von REISEN Magazin/Gerald Stiptschitsch | 13.10.2020 - 12:37
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Dürnstein thronte einst als mächtige Burg in der Wachau und wurde mit einem Teil des Lösegeldes zur Freilassung Richard Löwenherz erweitert und ausgebaut © Gerald Stiptschitsch

Die Dunkelheit brach herein und von der Donau, die Hochwasser führte, zogen dichte Nebelschwaden nach Erdberg, einem kleinen Vorort von Wien. Es war der 21. Dezember 1192, als eine als Pilger verkleidete Gestalt durch die engen Gassen irrte und schließlich eine kleine Gaststätte fand, in der sie einkehrte. Trotz seiner Vorsicht wurde er jedoch erkannt: es war Richard Löwenherz, der sofort gefangen genommen wurde.

In den Händen von Piraten

Während des dritten Kreuzzuges (1189–1191) kam es im Juni 1191 bei der Eroberung der Fes­te Akkon zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Herzog Leopold V. von Österreich und dem englischen König Richard Löwenherz um die Beute, die der König den deutschen und österreichischen Kreuzfahrern vorenthalten wollte.
Auf der Rückreise vom Heiligen Land erfuhr er vor Sizilien, dass Philipp II. die französischen Häfen hatte sperren lassen, und so fuhr Löwenherz durch die Adria in Richtung Norden. Kurz vor Istrien soll er von Piraten angegriffen worden sein, wobei sich jedoch der Schiffskoch von Löwenherz und der Piratenkapitän kannten, sodass der Angriff zu einer Verbrüderung wurde.
Richard stieg auf das Piratenschiff, das ihn auf der Halbinsel Istrien absetzte. Von hier musste Löwenherz den Landweg durch das Gebiet der ihm feindlich gesinnten Babenberger nehmen. Unter widrigen Umständen setzte er die Heimreise nach England durch Österreich fort. Nach der Festnahme wurde Richard Löwenherz Leopold  V. vorgeführt und zu Hadmar von Kuenring nach Dürnstein gebracht.

Kuenringer Raubritter

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Der blau-weiße Kirchturm erhielt im Zuge einer Renovierung wieder seine Originalfarbe © canadastock/shutterstock

Dürnstein, die „Perle der Wachau“, zählt zu den berühmtesten Gemeinden Österreichs. Die reizvolle Lage, der weithin sichtbare blaue Turm der Stiftskirche, die Kuenringer und nicht zuletzt die Geschichte von Richard Löwenherz machen die Stadt zu einem Ort, an dem Kunst, Natur und Geschichte eine besondere Einheit bilden.
Das bereits in der Jungsteinzeit besiedelte Gebiet gelangte im 11. Jh. als Schenkung Kaiser Heinrichs  II. an das Kloster Tegernsee. Ab Mitte des 12. Jh. war es Eigentum der Kuenringer, die eine Burg errichteten. Diese wird erstmals im Zusammenhang mit der Gefangennahme des englischen Königs erwähnt und zu einem der Haupt- und Stammsitze der Kuenringer. Die Brüder Hadmar III. und Heinrich – die „Hunde von Kuenring“ – waren die berühmtesten Kuenringer, die als berüchtigte Raubritter in der Sage weiterlebten und das Bild der Kuenringer jahrhundertelang prägten.
Nach dem Aussterben der Dürnsteiner Linie der Kuenringer (1355) erwarb Herzog Albrecht II. Burg und Stadt. Mitte des 16. Jh. war die Burg bereits baufällig. 1663 fiel sie an die Grafen von Starhemberg, deren Nachkommen sie noch heute besitzen. 

Blondel fand seinen Richard

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Der Weg beschreibt am Ende die letzten Lebensjahre von Richard Löwenherz. 1198 befindet er sich am Höhepunkt seiner Macht © Gerald Stiptschitsch

Unter dem Motto „Löwenherz in Dürnstein“ führt ein Weg von der Ortschaft Dürnstein hinauf zur Ruine, wo wahrscheinlich Richard Löwenherz gefangen gehalten wurde. Mehrere Schautafeln begleiten eine spannende Reise durchs Mittelalter und erzählen den Krimi um die Entführung, Gefangennahme und Freilassung des Engländerkönigs. Es ist ein Weg, der mit falschen Erzählungen und Überlieferungen aufräumt. So steht beispielsweise heute nicht mehr fest, ob Richard Löwenherz oben auf der Burg, im Tal oder auf einer Nebenburg, die heute nicht mehr existiert, gefangen gehalten wurde. 
Lange Zeit war nicht bekannt, was mit Richard geschehen und wo er verblieben war. Viele hielten ihn bereits für tot. Es ist unklar, wie lange er in Dürnstein war. Eine wichtige Rolle bei der Freilassung spielte der Legende nach Blondel de Nesle. Der Minnesänger machte sich auf, um Richard zu finden und zog mit seiner Laute von Burg zu Burg, wo er des nächtens die Lieblingslieder des Königs anstimmte. Bei Dürnstein hatte er Erfolg – sein Herr setzte das Lied im Echo fort.
Leider handelt es sich dabei nur um eine romantische Sage, die „Blondelsage“, zumal man nicht einmal genau weiß, wer Blondel wirklich war. Er könnte Jehan  I. aus dem französischen Adelsgeschlecht des Nesle gewesen sein, der ebenfalls am dritten Kreuzzug teilgenommen hatte – oder es hat ihn einfach nie gegeben.

Warum Österreich rot-weiß-rot ist

Die Gefangenschaft wird zu einem Mittelalterkrimi und nahezu alle wichtigen Herrscher waren in die Affäre verwickelt. 1193 wurden im Vertrag zu Worms die Bedingungen für seine Freilassung festgelegt. 100.000 Mark Silber – etwa 23 Tonnen und damit rund die doppelte Summe der Jahreseinkünfte aus Richards Herrschaftsreich – werden überbracht. Am 4. Februar 1194 ist Löwenherz frei. Teile des Lösegeldes sind heute noch „sichtbar“: Die Hälfte wurde in die „Münze Österreich“ investiert, mit der zweiten Hälfte Wiener Neustadt gegründet und die Städte Friedberg, Hainburg, Wien und Enns befestigt. Ein Teil kam dem Ausbau von Dürnstein zugute. 
Die Gefangennahme des Königs führte zu einem Wechsel der politischen Kräfteverhältnisse in Europa. Die Legenden erzählen wenig von Politik, sondern vielmehr von einem persönlichen Konflikt zweier Fürsten und von der Entstehung des rot-weiß-roten Wappens. Anlass des Konflikts und der Feindschaft sei das Herunterreißen des österreichischen Banners von einem Turm gewesen, den Herzog Leopold erobert hatte. Ebenso erfunden wurde die Geschichte vom blutgetränkten Waffenrock des Herzogs, der nach Abnahme einer schrägen Binde einen weißen Streifen hatte, worauf das rot-weiß-rote Bindenschild zurückgehen soll.

Mittelalterlicher Charakter in Dürnstein

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Die Ruine Dürnstein ist ganzjährig frei ­zugänglich. Wer die romantische Ruine ­erklommen hat, wird mit einem prachtvollen Panoramablick belohnt © Gerald Stiptschitsch

Bis heute hat sich Dürnstein seinen mittelalterlichen Charakter bewahrt. Im 12. Jh. wird der Ort zur Mautstelle und 1311 erstmals als Stadt bezeichnet. Das Vorwerk der Burg ist kaum noch sichtbar. Die Oberburg dominiert als Ruine die Stadt und das Donautal. In der halbkreisförmigen Apsis der ehemaligen Burgkapelle finden sich Freskenreste aus der ersten Hälfte des 15. Jh. Verbunden ist die Burg heute noch mit der Stadt durch turmbewehrte Mauern. Zum bedeutendsten Gebäude der Stadt wurde das ab 1715 barockisierte ehemalige Augustiner-Chorherrenstift. 1788 wurde das Stift unter Kaiser Joseph II. aufgehoben und als Pfarre dem Stift Her­zogenburg inkorporiert. Der blau-weiße Kirchturm erhielt im Zuge der jüngsten Renovierung wieder seine Originalfarbe.
Die strategisch günstige Lage in einem der schönsten Landschaftsgebiete ist der Grund dafür, warum Touristen aus der ganzen Welt eintreffen und die Geschichte von damals erleben möchten. Immerhin hat die Region auch viel Kulinarisches zu bieten – nicht nur einige der besten Weine Österreichs, sondern auch die weltberühmte Wachauer Marille.