Verliebt in Kirschblüten

Ein Artikel von REISEN-Magazin/Bernd Wittmann | 06.04.2021 - 13:42
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Eigentlich habe ich es bisher nie ganz verstanden, warum bei japanischen Staatsbesuchen in Europa immer irgendwo Kirschbäume gepflanzt werden. Freilich sind die Bäume zur Blütezeit mit ihren kräftig rosaroten Farben eindrucksvoll. Aber kennen die Japaner nichts anderes als diese Zierkirschen, die nicht mal Früchte hervorbringen? Ich habe mich auf den Weg nach Japan gemacht und mir diese mir selbst gestellte Frage beantworten können: Nein, kennen sie nicht!

Japan im Ausnahmezustand

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Die Bäume werden zur Blütezeit mit Lampions geschmückt, die abends eine stimmungsvolle Atmosphäre schaffen © Hinochika/shutterstock

Wer Japan im Ausnahmezustand erleben möchte, der sollte seine Reise in die Zeit zwischen Februar und Mai legen, je nachdem, welche Region in Japan besucht werden soll. Dann drehen die sonst so zurückhaltenden Japaner nämlich richtig durch, denn es ist die Zeit der „Sakura“, der Kirschblüte, und des Hanami-Festes (Hanami = wörtlich „Blüten betrachten“). Weite Teile des Landes sind in weiße, meist aber rosafarbene Wolken getaucht und jeder Japaner  geht zum Hanami, zum Anschauen der Blüten.
Das Fest steht für Reinheit, Schönheit, Neuanfang und Vergänglichkeit, ist aber gleichzeitig das größte Volksfest Japans, das in gewisser Weise an den Karneval erinnert. Dann sind nämlich Familien, Arbeitskollegen, Freunde und wirklich jeder abends oder am Wochenende in den Parks und auf Promenaden unterwegs, wo sich Tausende und Abertausende der blühenden Bäume befinden, die mit festlichen Lampions geschmückt wurden und abends mit Licht angestrahlt werden. Die Parks gleichen einer riesigen Picknick-Veranstaltung, wo die besten Plätze bereits Tage zuvor mit riesigen Planen (typisch sind große blaue Kunststofffolien) reserviert wurden.  Dazu werden O-Bento (Lunch-Box)  und Kekse, die mit einer säuerlichen, pinkfarbenen Kirschcreme gefüllt sind, ausgepackt und Sake, der Reiswein, getrunken. Auch wenn die Gaijins, die Ausländer, das ganze Jahr über gemieden werden, bei diesem Fest wurde ich herzlich in den trinkfreudigen Kreis aufgenommen. An beliebten Hanami-Plätzen ist es zu dieser Zeit ohnehin schwierig, einen freien Platz zu finden und da ist man dankbar, wenn man in eine Picknickrunde aufgenommen wird, was meist in einem kollektiven Massenbesäufnis endet. Man berauscht sich dann nicht nur an den Blüten, sondern eben auch an den im Kreis gereichten Sakeflaschen. Lang dauert das ans Oktoberfest erinnernde Spektakel ohnehin nicht, denn die Sakura dauert lokal maximal 10 Tage, dann ist der ganze Spuk der Kirschblüte vorbei. Als Andenken an diese ausgelassene Feier blieben mir nur ein paar Flaschen Reiswein, Kirschblütenkaugummi und eine schrille, rosafarbene Schokolade, die es eben nur zur Kirschblütenzeit gibt. 

Beobachtung der Kirschblütenfront

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Die Kirschblüte gilt in Japan als Inbegriff von Zartheit und Reinheit © jiratto/shutterstock

Die Tradition dieses Frühlingsfestes reicht bereits Jahrhunderte zurück und schlängelt sich alljährlich vom Süden in den Norden mit der Blütenfront. Die ersten Blütenknospen öffnen sich ab der dritten Jännerwoche auf der subtropischen Insel Okinawa tief im Süden, wobei dann oft auch schon die früher blühenden Pfirsich- und Zwetschkenbäume mit einbezogen werden. 23.000 Kiku-shidare, Shirofugen und Fukubana, die japanischen Blütenkirschen, stehen zu dieser Zeit im Nago Zentralpark in voller Blüte. Auf über 2 km erstreckt sich der Spazierweg durch die blühende Landschaft, der über einen Hügel mit Aussicht zum Meer führt. Am letzten Jännerwochenende wird dort auch das offizielle Kirschblütenfest unter der Schirmherrschaft der Kirschblütenkönigin mit Paraden, Maskenumzüge und traditionelle Tanzvorführungen gefeiert. 
Von Okinawa rückt die Blüte unaufhaltsam Richtung Norden – was minutiös von Sondersendungen im Fernsehen verfolgt wird – zunächst zur Hauptinsel Honshu. Die Nachrichten und Wetterstation bringen laufend Meldung über die „Kirschblütenfront“ und ganz Japan scharrt in den Startlöchern, um das Frühlingsfest in ihrem Landesteil beginnen und in ein Meer aus Blüten eintauchen zu können. Kein Wunder, sind doch fast die Hälfte aller Laubbäume in japanischen Städten Kirschbäume.
Sobald die Hauptinsel erreicht ist, zieht sich die Blüte jeden Tag etwa 25 km Richtung Norden durchs Land – Osaka, Kioto, Nara (die Hauptstadt im 8. Jh.) bis zum Vulkan Fuji, wenn in Okinawa die Blüten bereits wieder ihrer Vergänglichkeit erlegen sind. 
Die Urlaubsregion Hakone am Fuße des heiligen Berges Fuji ist für Touristen der beliebteste Ort zur Kirschblütenzeit, wenn sich die Blüten im Kontrast zum schneebedeckten Gipfel zeigen. Die meisten Kirschblütenbäume stehen übrigens in Tokio, der Hauptstadt Japans, wo aufgrund der Einwohnerzahl auch die größten Hanami-Feste stattfinden. Die Kirschblüte gilt als offizielle Pflanze von Tokio und mehr als eine Million Menschen finden sich Ende März bis Anfang April gleichzeitig im Ueno-Park ein. Kein Wunder, soll es doch in der japanischen Hauptstadt über 140.000 Zierkirschbäume geben. Statistisch gesehen müssen sich somit in der Mega-Metropole mit 34 Millionen Einwohner 245 Tokioter einen Kirschbaum teilen. 

Japanische Hot-Spots

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In Kyoto ist die Blütenschau am beeindruckendsten im öffentlichen Maruyama-Park © Sergii Rudiuk/shutterstock

Die Einwohner Japans finden die  Kirschblüten am schönsten, wenn die verblühenden Sakura ihre tränenförmigen Blütenblätter verlieren und diese elegant zu Boden segeln. Tokio bietet aber noch viele andere Möglichkeiten die Blütenschau zu erleben: Im Shinjuku Gyoen stehen mehr als 1.000 Kirschbäume und entlang des Sumida-Flusses, nur einige Schritte von Asakusa entfernt, kann man herrlich unter den Blüten spazieren gehen.
Nicht allzu weit von Tokio entfernt liegt die Halbinsel Izu. In der Stadt Kawazu findet die Blütenschau meistens zwischen dem 10. Februar und dem 10. März statt. Der 3 km lange Weg führt am Kawazu-Fluss entlang vom Bahnhof zur Mine-Onsen, eine der für Japan typischen heißen Quellen. Am stimmungsvollsten ist der Weg abends, wenn die Promenade zusätzlich durch Beleuchtung in eine besondere Stimmung versetzt wird.
In Kyoto ist die Blütenschau am beeindruckendsten im öffentlichen Maruyama-Park in der Nähe des Yasaka-Schreines. Im Zentrum des Parks steht ein riesiger Shidarezakura-Baum, eine besondere Art des Kirschbaums, dessen Zweige wie bei einer Trauerweide herunterhängen. Aber keine Sorge, wo auch immer man sich zur Zeit der Kirschblüte in Japan aufhält: Hanami gibt es in nahezu jeder Stadt und jeder Gegend, mal im kleinen Rahmen oder auf altehrwürdigen Plätzen wie z. B. in der Stadt Nara, wo sich die Pracht besonders vor der Halle des großen Buddha des Tempels Todaji entfaltet. Oder aber auf dem Berg Yoshino in der Präfektur Nara, auf dem rund 30.000 Kirschbäume zu bewundern sind.
Wer erst etwas später reisen möchte, der sollte weiter in den Norden nach Hokkaido reisen, um das Fest miterleben zu können. Sapporo ist dann meist in der ersten Maiwoche der letzte Ort. Die 1.200 Bäume auf dem Gelände des Schreins Hokkaido-jingu sind das Kirschblütenzentrum und die letzten blühenden Bäume des Landes, wo zum letzten Mal das Kirschblütenlied angestimmt wird: „Sakura, sakura, der Frühlingshimmel so weit das Auge reicht, wie Nebel, wie Wolken, der Duft und die Farben – gehen wir, gehen wir uns am Anblick zu erfreuen!