Moderne Schritte auf alten Wegen

Ein Artikel von REISEN-Magazin | 07.10.2020 - 09:16
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Am Fuße der Bürgeralpe erblicken wir die Mariazeller Basilika © Renata Sedmakova/shutterstock

Am Jakobsweg ist es die Jakobsmuschel, für Pilgernde nach Rom das Kreuz und jene, die auf dem Weg nach Jerusalem sind, haben als Palmträger Palmen mit sich. Alle haben sie also ein Symbol mit auf ihrem Weg, um zu zeigen, dass sie sich auf einer Wallfahrt befinden. Ob ein Wanderer von Wien nach Mariazell nun auch ein Symbol benötigt, um seinem Vorhaben Ausdruck zu verleihen, obliegt jedem selbst zu entscheiden. Ein gemeinschaftlich ernanntes religiöses Symbol gibt es am Weg von Wien nach Mariazell wohl nicht. Vielleicht ist es für Pilger, die keine religiöse Absicht haben, aber der Wunsch dem Alltag zu entkommen, der einem auf dem 111 km Weg begleitet. Dabei ist weder die Anzahl der Etappen und der Reisetage, noch die genaue Route vorgeschrieben.  Eine Freiheit, die das Unterfangen zu einem berauschenden und erfolgsversprechenden Erlebnis macht, denn diese Entscheidungsfreiheit trägt dem modernen Gedanken des Weitwanderns positiv bei. Den Motiven der Entschleunigung des Alltags, um aus den gewohnten Bahnen zu kommen und der Trägheit etwas gegenzusteuern, spielt das zudem in die Karten. Außerdem darf man sich sicher sein, dass man diese Freiheit auf dem Weg sprichwörtlich Schritt für Schritt zu schätzen lernt.

Im Rhythmus dem Alltag entfliehen

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Das Stift Heiligenkreuz im Wienerwald besteht ohne Unterbrechung seit dem Jahr 1133 © May_Lana/shutterstock

Entspannter kann eine lange Reise nicht beginnen. Zumindest für alle, die sich von Wien aus auf den Weg nach Mariazell machen: Die Straßenbahn Nr. 60 in Richtung Rodaun bringt Sie direkt auf den Wiener Wallfahrerweg 06. Der erste Schritt aus der Straßenbahn ist zugleich der erste Schritt der ersten Etappe. Das ist einer der vielen Gründe, warum der Weg 06 oft als die Einstiegsdroge für Weitwanderer bezeichnet wird. Zwar ist er ein etwas anspruchsvollerer Weitwanderweg, dafür aber eine abwechslungsreiche Alternative zur  traditionellen Via Sacra, die hauptsächlich entlang von Straßen verläuft. Man sollte sich vorab auf alle Fälle darüber im Klaren sein, ob man der vier- bis fünftägigen körperlichen Belastung standhält.
Etappe 1 beginnt gemütlich über die Perchtoldsdorfer Heide hinweg und verläuft sehr gemächlich. Spätestens in Heiligenkreuz zeigt sich dann aber, dass sich dieser Weitwanderweg trotz der vielen landschaftlichen Höhepunkte an großer Bekanntheit bei Wallfahrern mit religiösen Absichten erfreut. Aber nicht nur in Heiligenkreuz, wo viele im Zuge eines Tagesausfluges mit dem Auto anreisen, ist einiges los. An Wochenenden mit religiösen Feiertagen sind am ganzen Weg durchgehend  große Menschenscharen anzutreffen. Doch wer hat schon etwas dagegen, auf seinem weiten Weg Erfahrungen mit anderen Wanderern auszutauschen? Die Variante B des in zwei Varianten aufgeteilten Weg 06, für die wir uns entschieden haben, verläuft über Weißenbach an der Triesting, wo laut Plan auch die erste Tagesetappe endet.
Am zweiten Tag führt der Weg erst gemütlich weiter, wird ab Furth aber anspruchsvoller. Hier geht es nämlich steil hinauf auf den Kieneck, wo die Aussicht alle Mühen sofort belohnt. Die zweite Etappe wäre nochmals in zwei Varianten begehbar: Die Variante über den Steinwandgraben nach Unterberg, oberhalb der Myrafälle entlang, verläuft etwas gemütlicher. In Rohr im Gebirge ist es dann aber soweit, dass alle Varianten zusammenführen, um die restlichen beiden Etappen in Richtung Mariazell einheitlich zu begehen. 

Jetzt wird nicht mehr umgekehrt

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Schauplatz der Tragödie von Mayerling im Jahr 1889 und eine mögliche Sehenswürdigkeit der ersten Etappe ist das ehemalige Jagdschloss des Kronprinzen Rudolf in Mayerling © Cynthia Liang/shutterstock

In Rohr ist die Hälfte geschafft, der Weg zurück ist länger als er es nach vorne ist und die Freude darüber, Mariazell schon nah zu sein, lässt alle Schmerzen inner- und außerhalb der  Wanderschuhe vergessen.  Der Weg von Rohr im Gebirge nach Kleinzell zur Kalten Kuchl ist am Anfang der Etappe relativ einfach. Ein guter Tipp ist es, sich hier beispielsweise im Alpengasthof Rieder zu stärken, denn die nächsten zwei bis drei Stunden verlaufen zwar weiterhin gemütlich, Einkehrmöglichkeiten bleiben aber aus.
Von Tiefental aus, über den Finstergraben hinweg, zerrt der Weg erstmals entlang der dritten Etappe an den Kraftreserven. Vorbei am Hochreit wandert man hier bis ins Traisental auf bergigen Wegen. Gegen Ende dieser Etappe gilt es letztmalig, sich Gedanken über eine Unterkunft zu machen. Das ist entweder in St. Aegyd am Neuwalde oder zuletzt beim Gscheid möglich. Danach gibt es bis nach Mariazell keine Möglichkeiten mehr. 

Eine unvergessliche Erfahrung

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Auf der vierten Etappe kommt man am romantisch gelegenen Hubertussee vorbei. Wer seine Rast bis an den See aufsparen kann, wird dafür mit der tollen Seekulisse belohnt © Bartal

Endspurt. Ab dem Gscheid geht es auf der letzten Etappe über den Krumbachsattel auf Forststraßen ins Walstertal. Die Gedanken lassen bei der Perchtoldsdorfer Heide beginnend noch einmal alle Erinnerungen Revue passieren und die Beine machen immer noch das, was sie die letzten vier Tage zur Genüge gemacht haben: sie marschieren. Am Hubertussee zwingt uns die Atmosphäre förmlich dazu, kurz innezuhalten und die beeindruckende Natur zu genießen. Allmählich sind wir uns darüber im Klaren, dass dieses Abenteuer bald zu Ende geht. Ein bisschen Wehmut ist schon dabei, wenn man nach dem Habertheuersattel am wunderschönen Sebastianiweg die letzten Kilometer der Weitwanderung absolviert.
Und ehe man sich versieht, passiert es: Am Fuße der Bürgeralpe erblicken wir die Mariazeller Basilika. Unbeschreiblich. Nach all den Strapazen und erschöpfenden Schritten ist  es geschafft. Und der letzte tiefe Atemzug auf unserem Weg ist der schönste Moment, denn wir wissen jetzt, dass uns ein noch so beschleunigter Alltag die Freiheit, die uns diese wunderbare Natur schenkt, nicht vergessen lässt.